AATIFI
Nur ein ausgebildeter Kalligraf wie Aatifi, der die Regeln dieser traditionsreichen Kunst jahrzehntelang erlernt hat und im Schlaf beherrscht, kann es wagen, so unbeschwert und frei genau dieses stringente Regelwerk zu durchbrechen und seine Werke damit in einen komplett neuen Kontext zu setzen: Der Kalligraf, Maler & Grafiker mit afghanischen Wurzeln stellt die Tradition jahrhundertealter arabischer Kalligrafie dem freien Ausdruck zeitgenössischer Kunst vor – und hält dem außerordentlich anspruchsvollen Spagat zwischen dem Beherrschen von charakteristischen Buchstabenproportionen und der Erschaffung einer eigenen, losgelösten Bildsprache bis in oberste Expertengremien und Museumssammlungen stand.
Die Eindeutigkeit und Monumentalität der Elemente zeugen von einer radikalen Dynamik, die sich wie ein roter Faden durch sein gesamtes Werk zieht, wenngleich er keine Rücksicht auf die Kongruenz oder Konkurrenz der einzelnen Formen nimmt. Im Mittelpunkt steht der unbeschwerte Tanz der Buchstaben, der den Betrachter mit auf eine Reise in bisher ungekannte Gefilde nimmt.
Auch ohne sprachlichen Hintergrund zur Decodierung einzelner Buchstaben kann jeder die Schönheit der Farbe, die Spannung der Formen und der Raumwirkung empfinden und dringt somit zu einem globalen Sprachcode mit untergeordnetem Verständnisanspruch vor, der jedoch durch die selbstbewusste Farbigkeit zu einem ästhetischen Erlebnis erweitert wird.
Edite GRINBERGA
Der Windhauch, der den roten Vorhang in den flüchtigen Zustand des Wehens versetzt – gleich neben dem aufgeschlagenen Buch auf dem Tisch und den weitläufigen Schatten, die durch die Fensterscheiben ins Rauminnere dringen.
Edite Grinberga gewährt dem Betrachter ihren über Jahrzehnte hinweg verfeinerten, scharfsinnigen Blick in die Situation vor und nach der Situation, verlassen vom vermeintlich menschlichen Protagonisten und ergo die Bühne freigebend für die eigentlichen Hauptakteure: Licht und Schatten. Der minimalistische gegenständliche Gehalt ihrer Leinwände tritt zugunsten der hyperrealistischen Eleganz ihrer Erscheinung zurück und gibt damit einer unterkühlten Überdeutlichkeit Raum, welche die Lichtsituationen in einer Grinberga eigenen Sensibilität herausarbeitet.
Die Künstlerin lehrt in vornehmer Zurücknahme das Staunen über die Farbe Weiß und überlässt die fragile Lichtsituation voll und ganz dem Betrachter, der sich in der melancholischen Tendenz von Momenten, die bereits passé sind, verlieren kann. Grinberga arbeitet mit einer unerreichten Sorgfalt, als ob mit mehr Details auch mehr Wirklichkeit aufgebaut werden könnte. Stattdessen trägt die Überzeichnung der dargestellten Räume in einer behutsamen Farbpalette zwischen Weiß und Grau paradoxal zu dessen zärtlicher Verklärung bei – eine genauestens durchkalkulierte Geheimniskrämerei mit nicht versiegender Faszination für die Poesie des Moments.
— Eva Karl, Creative Director & Kunstjournalistin